Shangri-La
Das Juwel des Waldes
14:07
Genauso wie die Menschen auf der Erde ihre Legenden hatten, so hatten die Mobianer ihre eigenen. Eine davon, überall auf dem Planeten bekannt, war die Legende von der Stadt Shangri-La. Viele kannten die Legende, doch nur wenige wirklich etwas über diesen wunderbaren Ort.
Das aussergewöhnlichste, was zugleich der Grund für die Verbreitung war, ist die Tatsache, dass es unzählige Orte auf dieser Welt gab, die diesen Namen trugen. Alle mit einer ihr ganz eigenen Schönheit und Einzigartigkeit verbunden.
Die Städte der Ratten. Shangri-La.
Da Ratten sehr zurückgezogen und meist auch nur unter ihrer eigenen Rasse lebten, gab es nur wenig, was von ihnen bekannt war und nicht von ihnen selbst verbreitet wurde. Zum einen die Tatsache, dass das Volk der Ratten in 2 bestimmte Typen unterteilt wurde. Die ''Oberländer'', die Ratten, die oberhalb der Erdoberfläche in Wäldern oder ähnlichen Verstecken ihre Städte errichteten...
Dazu im Gegenteil die ''Unterweltler'', die unter der Erde – meist unter den Städten anderer Völker oder Mischstädten – lebten und dort eine andere Art von Schönheit in ihre Städte einfingen. Jemand, der es in 2 Worte fassen wollte, könnte es in ''Licht'' und ''Schatten'' zusammenfassen.
Der größte Unterschied der beiden Rattenarten war tatsächlich ''nur'' ihr Fell. Während die Unterweltler dunkles, braunes oder schwarzes Fell hatten und ebenso gerne in den schwarzen Roben herum rannten – im Schutze der Dunkelheit sozusagen – so hatten die Oberländer ein helles, meist graues Fell.
Zwist gab es zwischen ihnen nicht, überhaupt war den meisten Mobianern Rassismus in jeder Form fremd.
Vielleicht, weil Mobius zu bunt bevölkert war.
…
Dieses Shangri-La war im Zentrum eines großen, an die Wüste angrenzenden Waldes errichtet worden. Durch die Nähe zu dem Shangri-La unter Ray City hatten die beiden Rattenstämme – auch wenn den Begriff niemand mehr benutzte – seit je her gute Beziehungen gepflegt. So war es auch eine Selbstverständlichkeit ihren vom Untergang bedrohten Brüdern und Schwestern Einlass zu gewähren.
Dieser Ort war gewaltig. Jedoch nicht in der Fläche, sondern auf Grund der Art und Weise wie es errichtet worden war. Sah man, so wie Mia und Sierra gerade, vom untgersten Winkel aus, die Stadt, fielen einem zuerst die gewaltigen Bäume ins Auge... Sowie die unzähligen Fenster, Balköne und Treppen welche wohl im Inneren keinen Platz mehr gefunden hatten.
Diese Bäume verdienten keine andere Beschreibung. Sie hatten das Ausmaß eines Fußballstadions, von der Höhe gar nicht erst zu sprechen.
Nicht alle Bäume des Waldes und schon gar nicht der Umgebung waren bewohnt. Es schien, als ob nur die 3 Bäume, die in einem 3eck zueinander standen, von den Ratten ausgehölt und als Wohnort benutzt wurde. Alle, die darin keinen Platz fanden, hatten sich einfache, kleine Holzhütten zu deren Wurzeln errichtet.
Es duftete nach Natur. Laub... Leben.
Von der Stadt her überwältigte einen die Stimmen, Geräusche... Der Klang eines lebendigen Ortes. Man konnte die Stimmen derjenigen, die an den Stegen arbeiteten – und sich zumeist liebevoll anbrüllten – hören. Dahinter, nur als Rauschen ankommendes, Gemisch aus den Stimmen der beschäftigten Ratten auf den Wegen.
Der Ort war nicht in einen Sumpf, sondern in einen gigantischen See gebaut worden. Das Ufer war weit entfernt, so dass man einem unachtsamen sogar zutrauen konnte die Stadt zwischen den 3 gewaltigen Bäumen zu übersehen, würde man nicht richtig hinsehen.
Um jedoch nicht auf Wasser bauen oder eine schwimmende Stadt in Kauf nehmen zu müssen, hatten die Großväter ihrer Großväter in der Mitte des Sees Steine versenkt. So viele, dass diese aus dem Wasser ragten und genug Platz für Lebensraum schufen. Heutzutage konnte sich niemand mehr vorstellen etwas so gewaltiges zu schaffen... Doch so war es oft im Hinblick auf die Geschichte.
…
Sierra fror entsetzlich. Waren es hier, im Lichte der Öffnung, die zwischen den 3 Bäumen gehalten wurde, sicher wunderbare 18 – 20 Grad, so war es nichts im Vergleich zu der Hitze, die in den Ruinen Ray Citys – der Wüstenstadt – geherrscht hatte. Mia schien nicht darunter zu leiden. Immerhin hatte sie in den ewigen Schatten des Höhlensystems gelebt.
Das Zittern und Schlottern hatte, trotz des Versuchs Mias Sierra Wärme in die Arme zu reiben, erst aufgehört, als das kleine Boot an einem der Holzstege festmachte. Die Fährratte sprang vom Boot, streckte seine Beine durch und ließ dann die an einem Stab befestigte, Glocke erklingen. Kaum erklangen eilten 3 graue Ratten herbei um den Passagieren aus dem Boot zu helfen und das Gepäck zu verladen.
Die grauen Ratten dieses Ortes verzichteten wie bereits erwähnt das Tragen solcher Roben. Sie waren wie alle anderen Mobiander – meist dem Geschlecht unterschieden – knapp bekleidet. Die Männer beschränkten sich auf Hand- und normale Schuhe. Die Damen der Rattenwelt griffen in der Regel noch zu einem Lendenschurz und einem Bustier.
Wenngleich man keine Rattendame am Hafen arbeiten sah.
Sie hatten spürbar lange gesessen. Sierra wäre bei dem winzigen Stück zwischen Boot und Steg beinahe ins Wasser gefallen, da ihr ihre Beine nicht so gehorchen wollten, wie sie es erwartete. Der beherzte Griff eines grauen Arbeiters – der sie glatt von den Füßen hob – verhinderte das ungewollte Bad in dem verhassten Nass.
Mia ließ sich – ganz ladylike – direkt an die Hand an Land führen.
Auf die von Sierra gemachten Streckübungen – Hände an Füße – und den Kniebeugen verzichtete sie. Nicht, dass sie nicht konnte. Die junge und ganz und gar nicht ladylike Sierra dabei zu beobachten vertrieb jede Form von Wille in Richtung einer Streckübung.
Das Gepäck wurde zu den Bergen der Kisten und Schachteln der wohl zuvor angekommenen Unterweltler gelegt.
Eine graue Ratte, die neben einem Klemmbrett auch noch eine Wollmütze und Weste trug – ganz klar einer der Verantwortlichen – hatte die 3 Passagiere gefragt, was wem gehörte und jedes Gepäckstück einzeln beschriftet. Sie würden in die Zimmer und Häuser gebracht, in die der vertriebene Stamm erst mal einen Ort zum Schlafen finden sollte. Einige mit den Oberländern zusammen, andere unter sich. Nur die wenigsten – meist die mit entsprechenden, ''flüssigen'' Mitteln bekamen eine Einzelunterkunft.
Zu was Mia gehörte konnte wohl nur sie selbst sagen, als sie – fern von Sierras Blick – mit dem Verwalter sprach.
Der Blick der Füchsin war kerzengerade in den Himmel gerichtet. Sie verfolgte den Verlauf der Bäume und genoss das Scheinen der hier ''schwächeren'' Sonne auf ihr Gesicht. Eine wohltuende Wärme die nichts mit der bösartigen, gnadenlosen Sonne in der Wüste gemeinsam hatte.
Zumindest gefühlt.
Die Sorgen und Pläne, die Sierra in den letzten Stunden bzgl. ihres eigenen Lebens – gar Existenz – gemacht hatte, waren verflogen. Sie war jetzt hier und ob Sierra, Kopie oder was auch immer... Sie war sie und sie war jetzt hier.
''Ich bin froh, dass du meinem Rat endlich gefolgt bist...''
Sprach eine raue Stimme fernab der Neuankömmlinge, weit über deren Köpfe zu der Gepardin, die gerade an der dampfenden Teetasse nippte.
In dem südlichen Baum, irgendwo zwischen den höchsten Fenstern, konnte man über den Balkon in die Wohnung des Stammältesten sehen. Eine alte, weise, graue Ratte... Die sich niemals ohne ihren mit Schnickschnack verzierten Stab aus dem Haus ging. Das graue Fell war längst weiß geworden und die Augen unter einem Wust aus herunter hängenden, ebenso weißen, Augenbrauen verborgen. Seine Stimme war rau, drückte aber auch eine unglaubliche Väterlichkeit aus.
Jeder liebte ihn. Jeder folgte ihm.
In dem Wohnzimmer, welches mit einfachen, aus Holz gemachten Möbeln und einfachen Wandverzierungen geschmückt war, saßen nur Aki und Rotto. Einst ein starker und entschlossener Kämpfer, heute die geachtetste und sicherlich älteste Ratte in ganz Shangri-La.
Seine Tasse stand noch auf dem Tisch.
Aki und Rotto hatten schon seit Monaten darüber gesprochen, das hiesige Shangri-La der Unterweltler zu verlassen und zu ihren Vettern der Oberländer zu kommen. Die Gepardin hatte diesen Vorschlag – oder Bitte, wie Rotto es stets nannte – immer höflich zurück gewiesen. Es war nicht nur ihre Stadt, sondern auch ihre Heimat gewesen.
Doch war es in den letzten Wochen mehr und mehr offensichtlich gewesen, dass ein Überleben dort aktuell nicht möglich war. Vor der Eroberung durch Robotnik hatte Rotto einen solchen Vorschlag nie gemacht. Man wertete den Lebensstil der verschiedenen Rattenstämme nicht ab. Sie waren von Grund auf verschieden, aber typisch für Ratten.
Beide.
''Ich wünschte, dass sich unsere Kinder unter anderen Umständen näher gekommen wären, als bisher.''
Rotto nannte seine Ratten immer Kinder. Irgendwann hatte er sich zwar angewöhnt alle, die jünger waren ''seine Kinder'' zu nennen, doch es störte niemanden.
Aki nickte zunächst still, nicht traurig... Jedoch mitgenommen von dem Stress und den Strapazen des Tages. Zwar hatte sich niemand gegen das Verlassen der Stadt gewehrt, ganz im Gegenteil, so war es eben vielleicht deswegen eine Tortur gewesen nach und nach eine ganze Stadt mit den winzigen Booten durch die Kanäle zu führen.
Irgendwie hatte es funktioniert.
''Ich weiß deine Gastfreundschaft wirklich zu schätzen, alter Mann''
Sie hatte ihn nie anders genannt. Er musste jedes Mal deswegen lächeln. Niemand sonst sprach ihn so respektlos an. Doch das war für ihn ein eindeutiges Zeichen der Achtung und der Freundschaft, die die beiden dickköpfigen Anführer verband.
Wie viele Stunden hatten sie darüber diskutiert, was das beste für alle wäre.
''Ich bin wirklich froh, dass jeder so tatkräftig mit anpackt.''
''Mein Sohn leistet wirklich gute Arbeit. Ich muss mir wirklich keine Sorgen um meine Kinder machen, wenn ich einmal nicht mehr bin.''
Rottos Sohn, Trii, war ein gutherziger und glücklicher junger Mann. Er hatte, wie sein Vater eine stolze Erscheinung und das Charisma eines Anführers. Wie der in die Jahre gekommene Rotto jedoch an einen gerade mal 16 Jahre alten Sohn gekommen war, mochte niemand zu sagen.
Man wollte nichts darüber sagen.
Er wurde geschätzt und war fleissig. Er hatte die blauen Augen seiner Mutter.
''Du bist doch viel zu stur um den Löffel abzugeben.''
Er lachte, was bei ihm mehr wie ein Husten klang. Aki kannte den Unterschied und musste schnell mitlachen. Sie war lange nicht mehr so ausgelassen gewesen, auch wenn ihre Sorgen davon nicht vertrieben wurden.
Als Anführer gehörte es mit dazu, sich immer Sorgen zu machen.
Aki warf einen Blick auf ihre Uhr, eine aufziehbare, goldene Taschenuhr und nickte zufrieden. Alles im Zeitplan.
''Die letzten Boote müssten gleich in Shangri-La ankommen. Es müssten die letzten sein.''
''Ich bin froh, dass du dich immer noch so sehr um deine Kinder bemühst. Die Boote, die gerade angekommen sind, sind meiner Zählung nach schon die 3., letzten Boote. Sie können froh sein, eine so fürsorgliche Mutter zu haben.''
Es war der Gepardin zwar nicht die liebste Beschreibung, aber sie lehnte sie nicht ab.
Das Boot mit Mia und Sierra waren besagte, 3., letzten Boote. Hinter ihnen waren noch einige unterwegs. Ob sie nun noch Passagiere hatten oder nicht, konnte Aki nicht sagen.
Sie wollte nur niemanden vergessen zurücklassen.
''Du bist 100 Jahre zu früh dran, mich eine Mutter zu nennen, alter Mann.''
Sie lachten wieder.
''Wenn du sicher bist, das alle deine Kinder angekommen sind, treffen wir alle Maßnahmen.''
Jedem war klar, dass Robotnik irgendwann das Shangri-La unter Ray City finden und zerstören würde. Damit würden allerdings auch die Tunnelsysteme gefunden werden. Gewaltig oder nicht, Robotnik hatte die Mittel alle zu erfassen und irgendwann wäre auch dieser Ort gefunden worden.
Nach der Sprengung würden die beiden Höhlen, die jetzt noch wie winzige Inseln aus dem Wasser ragten, in der Tiefe versinken.
Ray Citys Shangri-La wäre zwar nicht verloren, aber erst mal unerreichbar.
Wobei sowohl Aki, als auch Rotto schon Pläne hatten – nach dem nie verlorenen Glaube, Robotnik würde irgendwann fallen – die Verbindung wieder herzustellen.
''Ich habe dir eine Wohnung im östlichen Baum gesichert. Ich denke sie wird dir gefallen.''
Sie hatten darauf verzichtet im selben Baum eine Wohnung zu haben, da sie einander respektierten und den Gleichstand darstellen wollten.
Aki war seinen Worten folgend aufgestanden, hatte die inzwischen leere Tasse auf den Tisch gestellt und war zum Balkon geschritten. Das Licht, das von aussen herein schien, überblendete alle Wunden der Vergangenheit und verliehen der Gepardin wenigstens in den Augen Rottos ihre alte Schönheit wieder.
''Ich weiß nicht, wie ich dir jemals danken kann.''
Rotto prustete ernüchternd durch seinen nicht vorhandenen Bart und ließ seinen Stab einmal auf den Boden klopfen. Er grummelte etwas unhörbar vor sich hin und wartete, bis er sich von seiner ''grausamen Wut'' erholt hatte.
''Dummes Kind. Wir sind Familie. Da dankt man nicht für so was!''
Aki lächelte wieder. Irgendwie schaffte er es immer.
''Danke Opa.''
…
Ihr Blick wanderte hinunter zu den noch immer schwer arbeitenden Ratten. Da die Schwarzen nicht wussten, wo was hinkommen sollten, machten überwiegend die Grauen die Tragearbeit. Dafür sorgten die Schwarzen dafür, dass sich jeder benahm.
Niemand wollte direkt nach der Ankunft die Dankbarkeit eines jeden verunglimpfen... Dennoch liefen sich gerade jetzt noch fast jeder einem jedem auf die Füße oder Schwänze.
Wo man hinsah war Betrieb.
Irgendwann, als ihr Blick Richtung Stege fiel, erspähte sie sogar im dichten Getummel Mia und die Füchsin... Sierra hieß sie. Aki hatte sie nicht vergessen, das war nicht ihre Art. Allerdings war die Füchsin am frühen morgen nicht wach zu kriegen und da sie nicht warten konnte, war sie gegangen. Eines der nach dem Boot für Mia geschickten Boote hatte die Aufgabe nach ihr zu sehen.
Dass Mia sie nun auf gegabelt hatte, beruhigte die Gepardin enorm. Zwar kannte sie das Mädchen nicht gut, aber sie schien ein gutes Herz zu haben und bemühte sich. Zudem unterlag sie zumindest solange Akis Verantwortung, wie diese in ihrem Haus geschlafen hatte.
Dass sie nun Mia folgte, nahm ihr diese Verantwortung wieder ab.
Sie kannte Mia. Die beiden Mädchen würden sich verstehen.
''Wenn wirklich alle angekommen sind, sollten wir zu unseren Kindern sprechen.''
Natürlich würden sie das. Letztendlich erwarteten alle, wie es nun weiter gehen sollte. Geführt von der Güte ihres Vaters und der lieben Strenge ihr Mutter...