Ray City aka Razer City

Sierras Blick verzog sich ein wenig, sie hatte – wer auch immer das war – mehr ''Worte'' erwartet. Allerdings gab es nicht, was der Junge machen konnte... Immerhin war sie bewaffnet und hier mehr Leute, als sie zählen konnte.
Ja, bestätigte sie sich selbst, ihre Vorsicht war auf jeden Fall gerechtfertigt.

Woran sie es fest machte? Einfach so.

…

Sie zog einen der beiden Stühle, dem Jungen gegenüber, ein Stück zurück und wies Reika an Platz zu nehmen. Immerhin konnte sie ihn so im Augenwinkel behalten...
Sollte der Junge irgendwas machen, würde Sierra sofort reagieren.

Sollte er nichts machen, würde sie sich an Reikas Seite setzen und ganz ''normal'' ihr Brot essen.

…

Irgendwie fühlte sie sich, als ''müsste'' sie mit Reika sprechen. Allerdings war das alles andere, als unangenehm.

''Haste gut geschlafen?''

Den Jungen würde sie nicht ansprechen wollen.

Wehmut – So war Sierras Antwort auf Reikas Antwort.
Nun gut... Es war früher Morgen und Reika sprach allgemein nicht sonderlich viel... Na gut inzwischen schon. Wieso nur nicht mir ihr?

Sierra kniff die Lippen einmal nachdenklich zusammen und streichelte Reika dann liebevoll über den Rücken. Sie war ihre Schwester oder nicht? Sie wollte sie nicht unter Druck setzen.

…

Die Füchsin war es zu gewohnt ein schmutziges bzw. verdrecktes Fell zu haben. Da sie zum Glück auch nur eine ''Minibluse'' trug, störte es sie kaum.

…

Sie biss noch ein Stück ihres Brotes ab, sagte aber nichts weiter zu Reika.

Ihr Blick galt nun erneut dem Jungen. Sie konnte nicht mal erkennen, ob er Fell, Federn oder Schuppen hatte. Hätte auch ein Mädchen sein können, wenn das ''Hmpf'' nicht so dunkel gewesen wäre.

Gabs irgendwas was wissen musste? Wollte?

Eigentlich nicht, Plucked schien alles im Griff zu haben.

''Hm... Entschuldige? Kannst du mir sagen, wer im Ort das Sagen hat?''

Ah. Er konnte – oder wollte – nicht sprechen.
Sie hatte... Hatte sie überhaupt schon ein mal Kontakt zu einem Stummen gehabt? Sie wusste es gerade nicht sicher, aber tendierte zu nein. Ihr erster Gedanke dazu war, dass sie ihn nicht weiter zum Schreiben ''zwinge'' wollte und ihn lieber in Ruhe lassen sollte...
Doch dann musste sie dem Zwang, mit ihm zu sprechen, nachgeben.

Vielleicht machte es ihn ja glücklich, dass man mit ihm sprach?

Die Stimme – ''Nines Stimme'' wie sie es nannte – die sie stets zu anderen Entscheidungen und Handlungen bringen wollte, wurde von Tag zu Tag ruhiger. Sierra hatte den Kampf dagegen an dem Abend aufgegeben, an dem sie mit Mia gesprochen hatte.

…

Sie grinste plötzlich glücklich.

''Sry, das wusste nicht.''

Sie versuchte das erste Mal, offensicht und noch immer lächelnd, unter seine Kapuze zu kucken...

''Mein Name ist Sierra.''

Reika stellte sie nicht vor. Immerhin wusste sie inzwischen, dass der Name nicht unbekannt sein konnte. Der Name Sierra hingegen... Sie könnte höchstens für ''die'' Sierra der Dragons gehalten werden. Wo sie wohl im Moment war? Immerhin hatte sie die Dragons nach Nines Verschwinden verlassen.

''Gib mir ein Zeichen, wenn ich dich nerve, ok?''

Sie lächelte weiter glücklich, vor allem weil sie sich daran erinnerte, wie sie – also Nine – sich in so einer Situation gefühlt hatte.
Sie wollte – so kam ihr spontan die Idee – ihren ''weiblichen'' Charme mal testen.

''Gar nicht so einfach zu euch zu kommen, weißt du? Ich wünscht, es gäbe einen direkteren Weg hier hin bzw. hier weg, als Mitten durch die Anlage oben.''

Ihre Ohren stellten sich auf, ihre Augen weiteten sich: Glücklich.
Endlich jemand mit dem sie ein Gespräch führen konnte... Wenngleich ''Gespräch'' sicherlich das falsche Wort war.

Spontan, ehe sie antwortete, ärgerte sie sich darüber, dass sie mit Plucked und Cairn nicht besprochen hatte, was von ihrer Mission geheim bleiben sollte und was nicht.

''Nein. Wir sind her gekommen um mit Scarf zu sprechen.''

Sie wollte weder Shangri-La, Plucked oder ihre Absicht ansprechen. Im Gegensatz dazu hatte sie gehofft, einen Weg aus dem Minengebiet in Erfahrung zu bringen. Das politische wollte sie Plucked und vor allem Cairn überlassen.

''Wenn du Lust hast, kannst du uns ja alles zeigen. Ich meine, wenn es etwas Zeigbares gibt.''

Den zweiten Satz sprach sie wieder fröhlich.

Dass er sich beeilte, blieb nicht unbemerkt. Sierras Reaktion war es, dass sie ihre Hand zuerst auf seine legen wollte, sie aber dann ''nur'' neben seinem Block nieder ließ.

''Du brauchst dich nicht zu beeilen.''

Ja! Sie jubelte innerlich. Das war nett!
Es war nicht gestellt oder ''erzwungen''. Sie kam gerade richtig gut mit sich zurecht.

''Ihr lebt doch hier unten oder? Womit verbringt ihr denn eure Zeit?''

Sierras Gedanken gingen ein wenig hin und her, doch am Ende kehrten sie immer wieder zur selben Frage zurück.
Plucked hatte sicher schon gehört, dass Scarf unterwegs war und mit ihm sprechen konnte sie im Moment nicht. Tanzen klang wenig interessant... Karten spielen? Sierra hatte nie Glück mit irgendwelchen Spielen. Vor allem nicht mit Karten.

Sierra konnte ein Instrument spielen, aber kein Klavier.

…

Eine Waise. Ein Waiser? Sie wusste das richtige Wort gerade nicht.

Hmpf.

''Weißt du, es ist irgendwie doof, wenn ich nicht weiß, wie du aussiehst. Zeig's mir doch mal... Bitte, bitte.''

Sierra legte ihren Kopf bzw. ihr Kinn auf den Tisch und wirkte nicht nur enttäuscht.
Es war allerdings kein Versuch unter seine Kapuze zu blicken, selbst wenn sie wohl nichts gesehen hätte.

Was sie von sich gab war ein ''unzufriedenes Geräusch''.

...

Hätte sie sich vor einer Woche so ''hängen'' oder sprechen sehen, hätte sie sich sicher sehr geschämt. Jetzt? Nein.

...

Trainieren konnte sie hier nicht und die Mission musste so oder so warten.

''Keine Chance, hm?''

Sie pustete eine Locke von ihrer Nase wieder an Position.

''Was willst DU denn den ganzen Tag machen... Eh... Wie heißt du eigentlich?"

Also doch ein Mädchen.
Sierra war nicht wirklich überrascht, mal abgesehen von der Tatsache, dass sie ihrem ''Glück'' bzw. dem ''Schicksal'' in Gedanken eine Gruß sandte. Irgendwie fiel die Szene unter den Begriff ''musste ja so kommen''.
Ihr Interesse an Marie verringerte sich nicht im geringsten: Im Gegenteil.

Immerhin waren jetzt Mädchen unter sich.

…

Sie stutzte. Hatte sie das wirklich gerade gedacht? Sie war einen Moment schrecklich nervös, doch das Gefühl verließ sie ebenso schnell wieder. Ja, stimmt. Weiter gingen ihre Gedanken nicht... Ausser, dass sie sich still wünschte, es nicht als ''seltsam'' zu empfinden.

…

Als der Löwe sich näherte, setzte sich Sierra wieder ordentlich hin.

Der Löwe schenkte Sierra und Reika nur einen kurzen Blick, den Sierra ebenso nur mit einem kurzen Winken erwiderte. Was hätte sie ihm sagen sollen?

Strengths Worte machten Sierra ''natürlich'' hellhörig. Wenngleich sie sich bzw. ihre Gedanken sofort wieder bändigte, hoffte sie spontan in Marie... Moon natürlich eine... Wie sagte man es am besten? Gleichgesinnte gefunden zu haben.
Ein Schmunzeln zwang sich ihr auf.
Zuerst Muddle, die davon überzeugt war ein Junge zu sein und ihr Leben auch entsprechend danach ausrichtete... Sierra hatte Muddles stets für ihren Willen und ihre Zielstrebigkeit bewundert. Ihr Ziel, also wirklich ein Junge zu werden, hatte sie nie aus den Augen gelassen.
Dann war da natürlich sie selbst. Geschaffen – bzw. ''hoffentlich'' geboren – als Mädchen, mit den Erinnerungen und Eindrücken eines Jungen. Einer der seltenen Momente, in denen Sierra bewusst glücklich war, sich für das ''Mädchensein'' entschieden zu haben.

Wenngleich es nach wie vor Tausende von Eindrücken gab, die ihr ''seltsam'' vorkamen. Ob sich das jemals ändern würde?

Dann Marie... Moon. Ging es wirklich darum ihr Geschlecht zu verbergen? Der Löwe hatte das gesagt, aber ob das wirklich der Grund war. Vielleicht, so dachte Sierra, mochte sie ihren richtigen Namen auch schlicht und ergreifend nicht.
Dennoch würde Sierra da nachhaken wollen.

Es lockte sie einfach die Vorstellung jemanden zu haben – eine Freundin zu haben – die ihre Situation wirklich verstehen könnte. Irgendwie zumindest...

…

Wäre der Zahnstocher nicht im Mundwinkel Strengths gewesen, hätte er wirklich bedrohlich ausgesehen. Löwen waren generell schon sehr große Tiere, aber seine dunkle Stimme rundete das Bild wirklich perfekt ab. Wenn man zumindest von der Schürze absah...

''Mein Name ist Sierra. Das ist meine Schwester Reika. Ja, wir sind mit Plucked hier.''

Das erste Mal, dass sie sie so vorstellte. Ein schönes Gefühl.
Strength hatte von sich aus darauf geschlossen, dass sie zu Plucked gehörten. Also sah Sierra auch keinen Sinn darin ihre Namen ihm gegenüber geheim zu halten.

Was sie nicht verstand war die Erklärung bzgl. Tinos... Aber vielleicht hatte sie das auch einfach übersehen oder überhört.
Sierra hatte Strength eigentlich dafür – für seine Vergangenheit sozusagen – doch sie beließ es bei einem ernsten Blick und einem Lächeln. Einem Nicken.
Strength erzählte es ihnen nicht, um gelobt zu werden. Das schien er nicht zu brauchen. Es schien ihm eher darum zu gehen, seine Position klar zu stellen. Er gehörte zu den Guten. Ende seiner Mitteilung.

…

Reikas Reaktion nahm Sierra zwar war, konnte sich aber nichts darunter vorstellen.

Moon wollte sie nach dem Grund für den Namen erst fragen, wenn Strength wieder verschwunden wäre... Eben unter Gleichgesinnten sein... Wenn Strength Recht hätte, erklärte dies vielleicht auch die Kapuze. Zumindest wäre das eine schönere Erklärung, als Sierras Vorstellung, eine Brandwunde unter der Kapuze verbergen zu müssen.

Mist. Das regte ihre Neugier noch mehr an.

…

''Gibt es hier viele Waisenkinder?''

Es interessierte sie am meisten.

Sierras Gesicht verzog sich genervt, als sie – trotz bereits geöffneten Mundes – nicht zu Wort kam.
Ausser einem leisen Knurren gab sie allerdings dazu nicht weiter von sich.

Nach Strengths Frage sah Sierra einen winzigen Moment zu Reika und erinnerte sich wieder daran, dass sie in einer Stadt voller Verbrecher waren. Waisenhaus und gute Stimmung hin oder her... Ihr gefiel sein plötzliches Interesse ganz und gar nicht...

Jetzt hieß es vorsichtig sein.

Plucked war noch in Blickreichweite, das war gut.

…

''Wieso interessiert dich das?''

Natürlich war das eine ablehnende Antwort, aber immerhin ging es hier um ihre Sicherheit.

Verschiedene Erinnerungen flimmerten vor Sierras innerem Auge auf... Sie erinnerte sich daran, wie sie die schwer verletzten Kinder in dieser stürmischen Nacht vor so vielen Jahren gefunden hatte. Wie lange es gedauert hatte, bis die Kinder sie... Also Nine, als ihren Vater angenommen hatte und wie lange es dann noch gedauert hatte, bis er sie als seine Kinder.

Unzählige Gespräche mit Muddle, gerade, als sie älter wurde...
Rick, der nicht genug Selbstbewusstsein zu entwickeln schien.

…

Wie sie all die Jahre immer mal wieder von dieser Frau gesprochen hatten...

Es fiel ihr schwer nicht entsetzt aufzuspringen, den Löwen beim Kragen zu packen und ihn anzubrüllen, wo diese Frau sei. Obwohl sie es gerne gemacht hätte. Es war keine Wut. Es war, als stünde man dem Schatz gegenüber, den man ein Jahrzehnt lang gesucht hatte.

…

Dass sie nun nicht aufsprang lag daran, dass sie sich mit den Händen am Tisch fest hielt. Ihre plötzliche Euphorie, aufgerissenen Augen und Verwirrung waren ihr aber eindeutig anzusehen.

Seine Fragen vergaß sie nur leider völlig.

''S... Soll das heißen sie ist hier?! Hier?! Emma?''

Ihre Augen sprangen von einer Ecke des Tisches zur nächsten.

''Ja. Ja, ich kenne Muddle und Rick. Ja! Kann ich mit Emma sprechen?! Ist sie hier???''

''Es ist mein Ernst! Ist sie hier oder nicht?!''

Sierra war nun wirklich aufgesprungen... Allerdings hatte sie ihn mit einem wütenden Blick durchbohrt und durch das Lokal gebrüllt, ehe sie sich wieder unter Kontrolle hatte.
Als sie merkte, Wut schnaufend, dass sie wieder ausgerastet war, sank sie ein Stück in sich zusammen.

Wieso konnte sie sich nicht beherrschen? Es war ihr sichtlich peinlich.

''T...Tut mit leid'', fügte sie hinzu, senkte den Blick auf den Tisch und setzte sich wieder.

''Tut mir wirklich leid.''